1984 kam ich im Pädagogik-Studium in Tübingen in Kontakt mit der Denkweise von Janusz Korczak und war sofort fasziniert. Jahre später lernte ich eine Einrichtung in Deutschland für Kinder und Jugendliche kennen, die sich nicht systemkonform verhielten; das Konzept der Einrichtung erinnerte mich an die Pädagogik von Janusz Korczak. Und siehe da, der Leiter bestätigte meine Vermutung. Die Ideen aus Korczaks Buch „Wie man ein Kind lieben und achten soll: eine praktikable und wirksame Form der Erziehung und Begleitung“ fanden in seiner Einrichtung tatsächlich Anwendung.
Wer ist dieser Jahrhundertpädagoge?
Janusz Korczak war ein Schriftsteller-Pseudonym, sein eigentlicher Name war Henrik Goldszmit, der 1878 oder 1879 in Warschau in einer wohlhabenden Familie zur Welt kam. Nach seinem Medizinstudium arbeitete er ab 1904 als Arzt in einer Kinderklinik und praktizierte bei Auslandsaufenthalten in Berlin, Paris und London. Bei Ferienkolonien wirkte er als Erzieher mit, die von einem Wohlstätigkeitsverein für Kinder aus prekären Einkommensverhältnissen eingerichtet wurden. Eine Wende kam, als der polnisch-jüdische Kinderarzt 1911 ein Waisenhaus gründete und sich entschied, für junge Menschen da zu sein.
Aus einem Brief von 1928 ist überliefert, dass Dr. Korczak ein Waisenhaus leitete, das sich in der Organisation an einer Art Republik orientierte. Es war ein „ganz konsequent durchgeführter Kinderstaat, der sich hervorragend bewähren soll“. Korczak intendierte mit diesem System, eine Pädagogik der Achtung zu fördern mit Partizipation und dem Prinzip der Selbstverwaltung. Mit seinem innovativen Ansatz hielt er Vorlesungen im Institut für Spezielle Pädagogik in Warschau und war schriftstellerisch tätig.
Neben seinem pädagogischen Wirken ist in Erinnerung, dass er während des zweiten Weltkrieges und Nationalsozialismus das jüdische Waisenhaus im Warschauer Ghetto leitete. Beim Abtransport ins Vernichtungslager Treblinka lehnte er es ab, die 200 Kinder im Stich zu lassen. Er hätte frei sein können. In Treblinka fanden die Kinder und Janusz Korczak am 5. oder 6. August 1942 den Tod. 1972 erhielt er posthum den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Für Korczak steht die Menschenwürde des Kindes im Fokus
Ein Kind ist ein vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft mit gleichen Rechten:
Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist schon einer.
Daraus folgt die Achtung vor dem Kindesalter, das den anderen Lebensbereichen des Menschen gleichberechtigt sein soll. Statt Zwang lebte Korczak in seinem Waisenhaus das pädagogische Prinzip der freiwilligen, bewussten Anpassung an die Gemeinschaft.
In seinem Buch „Wie man ein Kind lieben soll“ beschreibt er die Grundrechte der Kinder: Es mag provokant klingen – als erstes Recht nennt er
Das Recht des Kindes auf den Tod
Kinder müssen Erfahrungen sammeln und daraus lernen, das hat mit Selbstentdeckung und Risiko zu tun – statt aus Angst um das Leben des Kindes es einzuengen oder überzubehüten.
Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag
lautet das zweite Recht und betont Bedürfnisorientierung und selbständige Entwicklung des Kindes statt über es zu bestimmen oder es zu bevormunden.
Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist
heißt das dritte Postulat. Es betont die freie Entfaltung des Kindes entgegen der Vorstellungen, Wünsche und Bedürfnisse der Erziehenden. „Du, der du mit den Kindern zu tun hast, du solltest dich lieber freuen! Du bist schon dabei, deine Vorurteile, deine sentimentalen Ansichten über Kinder aufzugeben. Du weißt bereits, dass du nichts weißt. Kinder sind nicht so, wie du gemeint hast, sie sind ganz anders“, schreibt Korczak in seinem Buch „Wie man ein Kind lieben soll“. Es geht um die Gestaltung einer förderlichen Umgebung in der Familie oder in einer familienähnlichen Einrichtung für die Entfaltung des Kindes.
Was bedeutet das für heute?
Auch andere Pädagogen und Pädagoginnen engagierten sich für Kinderrechte. Seit 1989 sind Rechte von Kindern verbindlich definiert in der UN-Kinderrechtskonvention, das wichtigste internationale Menschenrechts-Instrumentarium für Kinder. Es geht um Überlebensrechte, Entwicklungsrechte, Schutz- und Partizipationsrechte. Damit erfüllten sich viele von Korczaks Forderungen. Doch es gibt noch viel Handlungsbedarf und viele Realisierungsschritte.
Das Kinderhilfswerk „Terre des Hommes“ verweist darauf, dass viele Menschen keine medizinische Versorgung haben, an Corona sterben und verwaiste Kinder zurücklassen. Das Recht auf sauberes Trinkwasser und auf eine gesunde Umwelt bleiben unter vielen dringliche Forderungen. Die Bekämpfung des Hungers und der Einsatz der Kinderrechte muss im Fokus bleiben.
Um Kinderrechte bekannt zu machen und für die Rechte der Kinder und ihre Umsetzungsschritte zu sensibilisieren findet zum Beispiel in Rheinland-Pfalz seit mehreren Jahren rund um den Weltkindertag am 20. September eine Woche der Kinderrechte statt. Den der Kampf um Kinderrechte ist weiterhin essentiell notwendig, solange diese nicht in allen Ländern geachtet werden.
Für die deutsche Entwicklungspolitik formen die Entwicklungsziele der Agenda 2030 einen neuen Referenzrahmen mit kinderrechtlichen Zielsetzungen
Alle Kinder sind in ihren Rechten gleich. Es gibt keine Ausnahmen und keine Privilegien.
Janusz Korczak
Es gibt noch sehr viel zu tun: vor Ort und weltweit!